Alles liegt in der Leere.

Der Sinn
Vor 4 Jahren sah ich erstmals Fotografien von Geir M. Brungot. Was mir zuerst ins Auge fiel war, daß in diesen Bildern nichts geschieht. Ich fühlte eine Leere, eine unangenehme Leere. Das selbe Gefühl drängte sich erneut auf, als ich 3 Jahre später seine Barcelona-Serie sah (die zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen war). Nun aber bekamen seine Bilder beim näheren Betrachten zum ersten Mal Inhalt und Fasetten.

Warum eigentlich hat man zunächst den Eindruck, daß in den Bildern nichts geschehe? Nicht etwa, weil nichts geschieht, denn das tut es, aber weil so wenig geschieht und vielleicht, weil seine Bilder weder in der Wahl des Motives noch in der Symbolik sensationell sind.

In Brungots Bildern dominieren Landschaften, und zwar in Form von Natur, Siedlungen und Städten. Seine Landschaften können als umittelbare Wiedergabe des Originals erlebt und deshalb unter dem ersten Eindruck als sehr direkt in ihrer Wirkung beschrieben werden.

Seine früheren schwarz/weiß Fotografien zeigen die norwegische Natur als Motiv oder als Hintergrund. Diese Bilder stellen zumeist die Landschaften des Westlandes oder Nordnorwegens dar; gern mit finsteren Bergen und bewölktem Himmel, was den Assoziationen des Romantikers in Naturschilderungen nahekommt. Auf diese Weise hat Brungot bewußt Stellung zum zentalen Motiv der norwegischen Kunstgeschichte bezogen und nicht zuletzt zum norwegischen Selbstverständnis und zur norwegischen Identität. Dennoch gibt es einen sehr großen Unterschied zwischen der Naturdarstellung des Romantikers und Brungots Interpretation, wie Professor Øivind Storm Bjerke betont: ”(…) Brungots Hauptmotive (sind) Orte, denen kein Status oder Symbolwert immanent ist und die früher nicht zu den klassischen Motiven der Kunst gehörten. Von Menschen gesetzte Spuren, deren Form und Struktur, bestimmen das Motiv. (…)” /1/ Wörtlich genommen, ist es diese Landschaft, in der Brungot einen Sinn findet und schafft.

Der Mann und der Ort
Ein solcher Ort, ”dem kein Status und Symbolwert immanent ist”, ist der Müllplatz in Solvær. Er ist der Ausgangspunkt für Brungots Serie ”Manscape”. Es ist schon paradox genug, einen Müllplatz mit Pathos und großem Naturgefühl darzustellen, aber hier liegt viel in der Fähigkeit des Fotografen begründet, zu sehen. Wir sehen Haufen von Abfall, Spuren schwerer Maschinen im Boden – eben Zivilisationsmüll im Kontrast zu der umliegenden großartigen und wunderschönen Landschaft Nordnorwegens. Der Anblick ist dennoch schön und ohne Ironie oder moralisierende Untertöne. Der poetische und forschende Blick des Künstlers ist wahrnehmbar. Die Verfremdung durch die hintergründige Darstellung läßt das Bekannte gleichzeitig als etwas Neues erscheinen, ein Phänomen, das wir in zahlreichen Bildern Brungots wiederfinden.

In der Serie ”Heimsavn” (”Heimweh”) sind es Brungots eigene Stätten seiner Kindheit, die dem Fotografen als Rahmen dienen. Hier sehen wir scheinbar ausrangierte Industrieanlagen, Autowracks, leere Geschäfte, finstere Gebetshäuser, öde Wege und dunkle Fenster. Wir sehen u.a. auch einen leeren Schulhof, der uns mit seiner hohen, oben abgewinkelten Umzäunung an einen Gefängnishof erinnert. Im Hintergrund hehindert ein finsterer Gebirgszug die Aussicht, und wenn wir den Blick heben, ist auch der Himmel schwer und grau. Die Serie schließt mit Bildern eines älteren Friedhofes ab. Die Grabmale sind von Verfall geprägt und von Naturkräften gezeichnet; so werden wir an das Ende des Lebens erinnert.

Der deutliche Kontrast zwischen Hell und Dunkel ist für diese Serie bezeichnend. Er stellt eine Art Fülle und Schwere im Ausdruck her. Gleichzeitig können die Motive eine Andeutung von Schwermut hervorrufen. Es ist eine Serie, die in ihrer Hingebung zu einem Ort als melankolisch beschrieben werden kann. Sie ist düster, teilweise emotional schwerwiegend, aber gleichzeitig von Liebe und Verständnis geprägt. Das Verweilen am Ort der Kindheit und dem Ort, an dem er lebt, birgt eine Zweideutigkeit in sich. Das Projekt kann unter anthropologischem Aspekt forschend wirken, möglicherweise aber auch kritisch und selbstprüfend.

Der Mann und er selbst
Die Zweideutigkeit als Mittel hat Geir M. Brungot erneut in seinem Werk “Evig eies kun det tapte” (”Ewig besitzt man nur das Verlorene”) verwendet, die erstmals im Frühling 2003 in der Ausstellung ”Min Gud, Min Gud” (Mein Gott, Mein Gott”) in der Kulturkirche Jacob gezeigt worden ist. /2/ Ein Teil dieser Bilder gehört zu den Serien ”Verden i fylgje meg” (”Die Welt in meinen Augen”) und ”Heimsavn” (”Heimweh”).

Das Werk besteht aus insgesamt 8 großen schwarz/weiß Fotografien. Die Bilder sind so angeordnet, daß sie Assoziotionen zu dem Muster wecken, nach dem gern zu Hause Familienbilder aufgehängt werden – nämlich in intimer Enge. Das Zentrum der Instalation ist eine junge Frau. Sie hat einen sorgenvollen Blick, den sie direkt auf den Betrachter richtet. In ihren Augen liegt fast etwas Anklagendes. Sie drückt eine kleine Puppe an ihre Wange, als fände sie Trost in diesem Spielzeug.

Um dieses Bild herum finden wir eine Reihe anderer Bilder. Wir sehen einen Mann, der sehr bewußt in seiner Umgebung platziert ist, Taustücke, eine frühlingshafte Landschaft. Wir sehen ein altes Grab, gezeichnet von der Zeit, und wir sehen dunkle, düstere Natur.

In diesem Projekt hält Brungot die Motive auf eine Art fest, die uns zeigt, auf welche Weise wir kulturell und sozial geprägt sind, wenn wir Bilder, Symbole oder Alltägliches in uns aufnehen. Deshalb ist es möglich, daß uns ein Himbeerfeld in Sykkylven wie ein Massengrab an der Front erscheint oder ein Abflußrohr als Symbol für Übergangsphasen im Leben.

Betrachten wir die Bilder einzeln und in ihrer Gesamtheit, bleibt ein Gefühl von Verlust, Isolation und Tod zurück. Dies ist vielleicht eines von Brungots düstersten Werken. In einem Bild jedoch finden wir Hoffnung – und zwar dort, wo Osterglocken den Schneee durchbrechen.

Der Mensch und das Fremde
Mit Brungots letzter Fotoserie ”Barcelona Manscape” entsteht zunächst der Eindruck, als habe er sich auf ein neues Gebiet begeben. Zum einen präsentiert er erstmals eine Serie in Farbe, zum anderen hat er sich aus Norwegen entfernt. Die Dramatik der norwegischen Natur ist verschwunden, verschwunden ist die düstere Heimatschilderung und auch die unmittelbare Thematisierung des Todes. Brungot befindet sich auf fremdem Boden; seine Motive stammen aus dem Herzen Barcelonas.

Die Serie besteht aus 15 Bildern. Eine Reihe der Bilder stammen aus Parkanlagen. Die Serie beinhaltet auch Bilder von Straßenzügen und Häusern. Wiederum gibt es hier keine Menschen. Wir sehen nur die Spuren, die sie hinterlassen haben, diesmal nicht in der Natur, sondern in dem vom Menschen geschaffenen und zwar als Grafitti, mutwillige Zerstörung und Abnutzung durch Gebrauch und Zerfall. Wiederum vermittelt die Abwesenheit von Aktivität eine Leere, die uns bereits aus früheren Werken des Künstlers bekannt ist. Es sind Parks, die nicht benutzt werden, Straßen, die leer sind, eine Tischtennisplatte, die nicht gebraucht wird, eine Konzertbühne, für die kein Bedarf ist.

Es ist hellichter Tag mit blauem Himmel und kräftiger Sonne. Dennoch erzielt Brungot in dieser lichten Landschaft eine spezielle Form von Dunkelheit, hervorgerufen durch die Nichtbenutzung von Gebrauchsdingen; ein Gefühl von Dunkelheit, das durch die Abwesenheit von Leben vermittelt wird. Die Abwesenheit von Menschen in Großstädten kann bei vielen Unbehagen hervorrufen, vielleicht deshalb, weil wir gerade dort viele Menschen erwarten. Das Erlebnis von unerwarteter Abwesenheit und Leere kann ein Gefühl von Unwirklichkeit erzeugen, etwas traumähnliches. Genau dieses Gefühl bedeutet, daß sich etwas außerhalb unserer Kontrolle befindet, - ein Setting äußersten Unbehagens.

Auf sechs dieser Bilder posieren Einzelpersonen. Wie in den Serien ”Manscape” und ”Heimsavn” sind diese Personen mitten im Bild plaziert und (mit einer Ausnahme) frontal abgebildet. Diese Personen wirken aufgeräumt; sie sind in erster Linie als Typen, nicht als Persönlichkeiten dargestelt. Diese statische Darstellung des Menschen steht nicht im Kontrast zur Umgebung, wie in früheren Arbeiten, sondern akzentuiert eher das Fremdartige, das die umliegende Landschaft prägt. Dieses Gefühl von Verfremdung erreicht seinen absoluten Höhepunkt im letzten Bild der Serie. Hiert steht eine Frau, weiß geschminkt und mit gepudertem Haar, inmitten von etwas, das an einen Müllplatz erinnert, aber eigentlich das Abrißgebiet einer früheren Schokoladenfabrik ist. Sie trägt ein barokkes Kleid, gefertigt aus Schokoladenpapier. Diese Szene versetzt uns in eine von Brungots früheren Serien zurück, nämlich ”Manscape”. Die dramatische und theatralische Darstellung dieser Frau erzeugt aber eine andere Stimmung, die man am ehesten durch ein Gefühl von Arrhythmie und Disharmonie zwischen dem Menschen und seiner Umgebung beschreiben kann. Hier wird ein Mensch als verfremdet dargestellt, sowohl von sich selbst, als auch von seiner Zeit und von den Dingen seiner Zeit.

Nicht nur Menschen werden auf diese Weise mitten in einer Komposition plaziert. In einer Reihe von Brungots Arbeiten sehen wir den gleichen Umgang mit Autos, Lichtmasten, Hecken, Häusern usw. Man könnte meinen, ein solcher kompositorischer Trick sei gedacht, um ein natürliches Zentrum zu schaffen, einen Stoppunkt oder Wendepunkt in einer Situation, die sonst als sinnlos oder verfremdet erscheinen würde.

Während Brungot früher auf seine hintergründige Art fast ausschließlich registriert hat, was er vorfand, erlebt man genau dieses letzte Bild eher als einen Kommentar, zu dem das Publikum Stellung beziehen muß. Wenn wir die Serie als Ganzes betrachten, also dieses von Menschen geschaffene Stadtbild, entdecken wir, daß es sich um einen Un-Ort handelt. Es findet sich keine Spur von Kultur oder Geografie, die etwas darüber aussagen würde, wo in der Welt wir uns befinden (abgesehen davon, daß es sonnig ist). Es könnte ein ganz beliebiger Ort irgendwo, z.B. an der Westküste der USA sein. Deshalb besteht das Verlockende dieser Serie gerade in der Darstellung von Leere und Verfremdung, die entsteht, wenn ein Ort seinen typischen Charakter verliert, wenn Mensch, Kultur und Geschichte unwichtig werden. Dies gibt dem Werk auch einen pessimistischen Grundton.

Es gibt übrigens ein taoistisches Sprichwort, von dem ich weiß, daß Brungot es kennt: ”Alles liegt in der Leere.” In diesem Zusammenhang können wir sagen, daß dieser Ausspruch Ausdruck einer besonderen Lebensanschauung ist, nämlich dem Willen, am Unmitelbaren vorbei auf die Möglichkeiten im Mittelbaren zu sehen. Eine solche Herangehensweise ist eine Herausforderung für den pessimistischen Grundton und lädt zu einer mehr nuancierten und lebendigen Interpretation ein.

Darüber, den Menschen zu sehen
Das Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umgebung zieht sich wie ein roter Faden durch Brungots künstlerisches Schaffen. Nicht zuletzt sehen wir, daß seine Fähigkeit, die Natur oder ein Stadtbild als Bild der inneren Landschaft des Menschen und seiner Gefühle erstehen zu lassen, auf unterschiedliche Weise in all seinen Werken wiederkehrt.

Abschließend ist es verlockend zu seinem Werk “Evig eies kun det tapte” zurückzukehren, weil ich denke, darin Brungots künstlerischem Schaffen am nächsten zu kommen. Vielleicht habe ich dieses Gefühl, weil dieses Werk von einer Sehnsucht geprägt ist, die in der Wirklichkeit wurzelt, aber auch ein Gefühl von Wurzellosigkeit erzeugt, ein Charakterzug, den man ebenso in Brungots übrigem Werk wahrnehmen kann. Mit dieser Arbeit als Ausgangspunkt und Hintergrund erleben wir die Serie ”Barcelona Manscape” als alles andere als leer. In ”Evig eies kun det tapte” fokussiert Brungot auf den mentalen Schmerz und die unausweichlichen Momente von Verlust und Ungerechtigkeit im Leben. Dennoch sollte man nicht den voreiligen Schluß ziehen, dies als Ausdruck von Resignation zu bezeichnen. Um dieses Werk und andere Bilder Brungots verstehen zu können, ist es besser, sie als eine Art Erkenntnis zu betrachten und als Akzeptanz der Irrwege des Lebens und die Möglichkeiten, die in dem Augenblick liegen, in dem die Welt leer erscheint. Für den, der Brungot kennt, unterscheidet sich diese Einsicht nicht vom Umgang des Künstlers mit dem eigenen Leben.

Der Mensch als Figur hat zumeist eine untergeordnete Rolle als Motiv in Brungots Bilderwelt. Dennoch sind es grundsätzlich Menschen, von denen seine Projekte handeln. Trotz der Gefahr, übermäßig zu psychologisieren – es geht um Geir M. Brungot. So gesehen, ist es ein mutiges Projekt, mit dem der Künstler sich dafür entscheidet, sich selbst und sein Gefühlsleben bloßzustellen und offenzulegen.

Im Hinblick auf das scheinbar Unmittelbare in der Aufnahmesituation ist es verführerisch, die Bilder als ehrlich in der Bedeutung von direkt und echt zu beschreiben. Wir wissen aber, daß weder die Kamera, noch das Auge des Fotografen am Sucher neutral sind. Dennoch können wir uns erlauben, zu sagen, daß die Bilder ehrlich in der Bedeutung von selbstausliefernd sind…

Wenn wir uns Zeit lassen, ist es nicht notwendigerweise der Künsller, den wir hinter diesen Bildern finden; wir erleben ein Phänomen, das uns selbst angeht. Es geht darum, den Menschen zu sehen … den gesamten Menschen … aber es geht auch darum, herauszufinden, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

Kristiansand, Mitte September 2004
Erlend G. Høyersten
Direktor
Sørlandets Kunstmuseum

/1/ Øivind Storm Bjerke, Geir M. Brungot, aus dem Buch ”The Rest is Silence”, Ålesund 2003, S. 4

/2/ Erlend G. Høyersten, ”Ewig eies kun det tapte”, S.22 im Katalog ”Min Gud. Min Gud.” , zeitgenössische Kunst in der Kirche, red. von Berit Hunnestad, Oslo 2003